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   Achtung unzensiert! - Polit
  



Achtung unzensiert!



Polit



Übersicht (Direktlinks):

Bringen wir uns in Sicherheit


Perspektiven

Eine Kindheit unter Landeklappen

Denunziantentum und Lernfabriken
 


 
Bringen wir uns in Sicherheit!

Von der Flucht in die Kunst oder Vom Verstummen der Wortgewandten

Welche Wohltat, sich der quälenden Konfrontation mit der Fragwürdigkeit, mit der
Untragbarkeit, gesellschaftlicher Prozesse entziehen und in die unschuldige Behaglichkeit
der Schreibstube abtauchen zu können!
Ein Dank der holden Muse, die den Literaten gnädig küsste und ihm milde lächelnd dieses
Hintertürchen zum komfortablen, gewissensruhigen Raum wies. Völlig unbehelligt führt
sie uns vorbei am schlaftrunkenen Torwächter des sonst so eifrigen Über-Ichs eines
Künstlermenschen.

Wir folgen ihr auf leisen Sohlen ins sichere Versteck, uns eine Weile auszuruhen vom Garstig-
Echten, das uns so ekelhaft lebendig und resistent erscheint gegen jede Form der Poesie.
Nur keine Bange: Der Raum ist schwerlich zu verfehlen. Außen an der Tür steht jetzt in fetten
Lettern „Ignoranz“, wo einmal Unbequemlichkeiten wie „Solidarität“, „Kritik“ und „Humanismus“
in die Augen stachen.

Natürlich mahnt der sensible Seismograph des Schreibenden das gefahrvolle Brodeln in den
untersten gesellschaftlichen Schichten besonders zeitig und besonders heftig an, lange
bevor die tiefe Kluft noch weiter auseinander bricht und viele in die Tiefe reißt.
Selbstverständlich hätten wir die Worte, die Kenntnis und die aufrichtige Empörung, Stimme für
jene zu sein, die aus Sprach- oder Fassungslosigkeit die Sprache der Gewalt sprechen lernen.
Fraglos hatten wir das geistige Potenzial, das alles rechtzeitig zu enttarnen: New Orleans,
Paris, Hartz IV, Bankenskandale, Disintegration, kollektive Depression, Missbrauch in Kirche
und Familien, Mord an der Meinungsfreiheit, Handschellen und Maulkörbe für Aufdecker …
Sicher wären wir in der Lage zu eruieren, zu analysieren, zu mobilisieren…
Wer, wenn nicht wir?!

Und dennoch: Nein, wir müssen uns nicht ob unseres Schweigens schämen! Uns in die
Obhut des unbeschmutzten, heilen Mikrokosmos rein fiktiver Ideen zu begeben, ist unser
angestammtes Recht. Sind wir dem Gemeinwohl nicht geradezu verpflichtet, die zarte
Literatenseele vor allzu realen Fäulniskeimen politischer Exzesse zu beschützen?
Nicht auszudenken, wenn Partikel davon übersprängen und durch Aktivierung moralischer
Reserven das Hirn zu dieser oder jener Leistung zwängen, die erst den Kritisierten und
am Ende dann womöglich noch der eigenen Person viel Ungemach bereitete.

Was, wenn uns schließlich unsere Ohnmacht gegenwärtig würde und wir Schaden nähmen
am schützenswerten Künstler-Ego? Wer wäre später wohl zur Stelle und überdies in
intellektueller Hinsicht in der Lage der Allgemeinheit postum die Analysen menschlichen
Versagens nachzuliefern und im Rückblick kritisch distanziert – mit Courage und
Engagement versteht sich – die rechten Worte zu notieren? Gerade der modernen
Lyrik liegt das Ungereimte doch so gut!
Gönnen wir uns ruhig selbst schon einmal einen Schluck des Balsams, den wir später
wohlwollend in die klaffenden Wunden und kranken Seelen träufeln werden. Mit ein wenig
Fantasie-Elexier im grummelnden Magen, umgeben von Gleichgesinnten, die uns nimmermüde
das schwache Rückgrat tätscheln, vergeht die Zeit bis dahin recht angenehm.
Verriegeln wir nur fest unsere Schreibstuben und nehmen wir uns vor Lemuren in Acht,
die danach trachten, die Tür aufzureißen, dass wir das wahre Sterben zu Gesicht
bekommen und uns vom scharfen Luftzug die Schreibhand und das Herz gefriert!

Leilah Lilienruh

 


  

Perspektiven

Stellen wir uns doch nicht so an!
So zartmenschig ethisch-moralisch verprägt, so
wahnwitz-idealistisch. Stellen wir uns doch einfach mal hinten an – uns, unsere nimmersatte
Gerechtigkeitsgier und unsere wirtschaftlich völlig ineffektive Herzensbildung - hinter den
politischen Machtinteressen, hinter der Effizienz, hinter der Korruption, hinter den Bonzen,
Intrigen, Lügen und Sauereien, ja, hinten, hinten, noch weiter, dort, von wo aus wir kaum
noch was erkennen können… ganz hinten halt. Ist doch viel besser da hinten, mit einigem
Abstand. Da wird einem nicht so leicht übel. Ist ein Irrglaube, dass der Gestank von Gülle
angenehmer wird, je länger sie vor sich hingärt. Der Anblick wird auch nicht besser. Vielleicht
wird man im Laufe der Zeit blind davon, schwerhörig, geistig umnebelt?! Würde einiges erklären.

Auf jeden Fall muss man sich den Hals auch nicht so verbiegen beim Hochgucken, da hinten.
Nicht zu verwechseln mit dem Terminus „Aufschauen“, der ja Respekt implizieren würde.
Zur Erinnerung: Man guckt zu seinen Erziehungsberechtigten hoch, wenn man fünf Jahre
alt ist und angebrüllt wird, weil man den Großvater ein Arschloch genannt hat, weil er ein
Arschloch ist. Man guckt zu den Flugzeugen hoch, die direkt über der ehemals idyllischen
Vorstadtsiedlung die Landeklappen ausfahren, weil man die neue Startbahn nicht verhindern
konnte. Man schaut zu den fünfzigstöckigen Bankenhochhäusern hoch, wo die Herrschaften
thronen, die dafür verantwortlich sind, dass man sich das Häuschen, über das die Flugzeuge
jetzt im Minutentakt hinwegdröhnen, sowieso nicht mehr leisten kann.

Klammern wir uns doch nicht länger an jene utopisch-prinzipielle Hoffnung! Wozu denn
immer noch mit aller Kraft die Welt verbessern wollen und dabei bestenfalls die eigenen blassen
Tränen- und Schweißränder auf den Kummerbunden und Frackschößen pausbäckiger Aussitzer
hinterlassen. Wem fallen sie dort in den Speckfalten neben den Fettflecken vom letzten und
nächsten Weihnachtsgans-Essen schon auf.

Worauf es im modernen Staat letztlich ankommt, scheint es, ist doch wohl eher die Fähigkeit,
optische Ekelreize gesellschaftlicher Entwicklung so zu verarbeiten, dass sie vom Hirn als
durchaus tolerierbarer Kollateralschaden bürgerlicher Bequemlichkeit verbucht werden. Man
sagt, eine milde Vorweihnachtsgabe in mehrstelliger Höhe würde diesen Prozess der
Synapsenbildung enorm fördern. Dass der Besitz eigenen Gehirnes dafür Grundvoraussetzung
sei, ist empirisch nicht zu bestätigen. Der Ablassgeber achte jedoch sorgsam auf die
Spendenquittung, ohne die jede Absolution nur halb so viel Freude bereitet.

Wer sichergehen will, splittet die Gabe und erwirbt noch ein paar Raritäten im Ausverkauf der
Moral. Wer weiß, wann und wozu man die antiquierten Exemplare mal wieder brauchen kann.
Wie es heißt, stehen einige davon in den Teakholzvitrinen hochrangiger Persönlichkeiten, um
dort der Jugend vorgeführt zu werden.

Seien wir doch nicht so ekelhaft gradlinig! Vielleicht müssen wir auch einfach nur den
Kopf ein wenig zur Seite legen, um den schiefen Turm wieder gerade zu sehen.
Möglicherweise, falls dies nicht genügen sollte, könnten wir uns gänzlich zu Boden begeben
und die Sache aus der stabilen Seitenlage betrachten, womit wir auch gleich vor dem
Kollabieren gefeit und in einer guten Position zum Stiefellecken wären. Eventuell würde
angesichts unseres durch (Waa)gerechtigkeit subjektiv wieder hergestellten aufrechten
Weltbildes ein frohes Lächeln über unser Gesicht huschen .

Wir würden staunend hinaufschauen zu den feilgebotenen Fragwürdigkeiten und inbrünstig
seufzend bemerken: „Oh, alles genau so, wie es sein sollte!“ Warum nicht einfach ein
wenig in kollektive Schieflage verfallen, statt jenen Ungemach zu bereiten, denen der
Appetit auf unseren letzten Funken Anstand noch nicht vergangen ist und die ihn sich
sardonisch grinsend in der gemütlichen Vetternwirtschaft zwischen zwei Scheibchen
Korruption mit einem Gläschen Ignoranz runterspülen werden.

Guten Appetit!

Leilah Lilienruh

 



  
Der K(r)ampf mit dem FLUCHHAFEN endet einfach nie

Solange ich zurückdenken kann, versuchen wir diesen Mist vergeblich zu stoppen... ob
Frankfurt oder Calden... überall der gleiche Wahnsinn und die gleiche Machtverteilung.

Hier ein älterer Zeitungsartikel aus meiner Feder zu dem Thema:

Eine Kindheit unter Landeklappen

Wirtschaftliche Effizienz, Parteiraison, Infrastruktur, Konjunktur, Expansion…
welche höchstwichtigen, wohlklingenden Begrifflichkeiten höchstwichtiger
Persönlichkeiten öffentlichen Lebens – was für hirnrissige Nebensächlichkeiten
für ein Kind in der Einflugschneise eines großen Flughafens. 

Meine Kindheit oder das, was der Flughafen davon übrig gelassen hat, fand in den späten
1960er und frühen 1970er Jahren nahe der Offenbacher „Rosenhöhe“ statt. Schlichte,
gepflegte Ein- und Zweifamilienhäuser präsentierten sich mit Blumenrabatten in den Vorgärten
und frisch gestrichenen Metallzäunen. Hinter jedem Haus zeugte ein großzügiger Obst- und
Gemüsegarten vom Fleiß und Geschick der Eigentümer. Man kannte sich untereinander, war
sich auch gern einmal behilflich und sprach nicht ohne Stolz von „meinem Haus und Garten“.
Eine kleine Vorstadtsiedlung, wie man sie sich netter und beschaulicher kaum vorstellen kann…
wären da nicht diese gigantischen, stählernen Kolosse gewesen, die sich mit ohren-
betäubendem Lärm über unseren Köpfen herabsenkten, um alsbald auf dem Frankfurter
Flughafen zu landen.

Direkt über diesem Teil der Nachbarstadt Offenbach mussten sie zu diesem Zwecke laut
vernehmbar ihre Landeklappen und Fahrwerke herauslassen. Zum tobenden Krach der
Triebwerke gesellte sich dann also auch noch der Lärm durch den erhöhten Luftwiderstand
der ausgefahrenen Flugzeugteile.
Man stelle sich ein Leben vor, das durch und durch dem Rhythmus eines Flugplans unterliegt:
Wenn gerade kein Flieger naht, drüber ist oder sich entfernt, geht alles seinen Gang.
Im anderen Fall steht der Alltag plötzlich still. Es waren viele Flugzeuge, schon damals.
Im Abstand von nur wenigen Minuten drangsalierten sie uns. Und die Ruhepausen zwischen
den einzelnen Maschinen wurden von Jahr zu Jahr kürzer, die Nachtflüge mehr und mehr.
Von einer „Startbahn West“ war damals noch keine Rede, und doch war es bereits schier
unerträglich.

Wie bereits erwähnt, ist dieser kreischende, brüllende Lärm von besonderer Art und Dynamik:
Er nähert sich in halbwegs erträglichem Mezzoforte, das einen dazu veranlasst, die Stimme im
Gespräch etwas zu heben, artet in einem unvermeidlichen Crescendo aber innerhalb von etwa
zehn bis fünfzehn Sekunden zu einem gewaltigen Fortississimo aus, um jedwede Unterhaltung,
jedes Naturgeräusch, ja selbst Fahrzeuglärm in sich zu verschlucken. Gegenstände des
täglichen Gebrauchs geraten durch die Schallwellen in Schwingung, erzeugen ihre eigenen
Laute oder fallen schlicht zu Boden. Ist der Höhepunkt der Attacke überstanden, so dauert es
etwa ebenso lange wieder bis Ruhe eingekehrt ist.
Wir Kinder kannten unseren „Feind am Himmel“ von der Wiege an. Im Kindergarten hörten wir
wie auf ein Zeichen auf zu spielen, wenn er nahte. In der Schule gehörten die permanenten
„halben Schweigeminuten“ dazu wie das Handausschütteln nach mehreren Zeilen Schönschrift.
Damit die Unterbrechungen überhaupt noch halbwegs sinnvollen Unterricht zuließen,
verständigte man sich vor und nach dem schlimmsten Krach schreiend.

Für Fremde muss dies alles seltsam angemutet haben: Kunden und Bäckereiverkäuferinnen,
die sich schweigend gegenüber stehen, Handwerker wortlos mit Bauplan in der Hand, das
überschwappende Wasserglas neben dem Behandlungsstuhl beim Zahnarzt…

Wir Fluglärmkinder waren auch anders als andere Kinder: zittrig, nervös, geräuschempfindlich,
hyperaktiv, übermüdet und mit stark schwankendem Puls. 
Die Ferien bei der Großmutter auf dem Lande bei Kassel waren wie kurze Ausflüge ins Paradies.
Ruhig war es da, so unglaublich still und friedlich. Der Schnee war weißer, die Fensterscheiben
klarer und die Menschen sehr viel weniger hektisch.

Irgendwann kam sie dann, die „Startbahn West“. Da half kein Demonstrieren, Besetzen,
Argumentieren oder Betteln. Irgendwann mussten das auch die Eltern einsehen. Und da
haben sie schweren Herzens beschlossen, ihr Häuschen, ihren ganzen Stolz, für „einen Appel
und ein Ei“ fremden Menschen zu verkaufen und ganz ins ruhige Kasseler Umland zu flüchten.
Ein beschwerlicher Neuanfang für eine bessere Zukunft.
Sie haben sich am Waldrand ein neues Häuschen gebaut, mit einem Garten drumherum und
nichts als herrlich frischer Luft oben drüber. Schöne Jahre waren das.

In der Zwischenzeit wurde nicht nur die "Startbahn West" realisiert, sondern alsbald auch
"Platz geschaffen" für weitere Ausbauten. Wer nicht selbst fort gezogen war, berichtete
resigniert vom Krach und Dreck. Letztendlich schien die Entscheidung, noch einmal woanders
von vorn zu beginnen, vernünftig gewesen zu sein.

Und jetzt – jetzt haben die hohen Damen und Herren das bis dato beschauliche Nordhessen
mit seinem kleinen Flughafen Kassel-Calden im Visier. Was da von oben naht, krähen schon
die letzten Hähne von den Dächern. Längst will keiner mehr die hübsche Einliegerwohnung im
Häuschen der Eltern mieten. Sie können das verstehen, natürlich, schließlich haben sie ja am
eigenen Leib gespürt, was Fluglärm bedeutet.

Und Oma überlegt, wie sie ihrem Enkel am besten das Wort Effizienz erklären soll...


Kleiner Nachtrag:

Sämtliche Proteste waren vergebens. Der Flughafen in Calden ist seit nunmehr einem halben
Jahr in Betrieb, und wer verfolgt hat, was aus dem Projekt geworden ist, kann nur noch den
Kopf schütteln. Vom befürchteten Fluglärm sind wir bisher zum Glück verschont geblieben.
Warum? Der Bau hat sich schlicht als völlig überflüssiges, von der hiesigen Wirtschaft mit
Ignoranz bestraftes Millionengrab erwiesen. Nun steht er aber da, die privaten Immobilien
haben wie vorausgesagt enorm an Wert verloren, die Steuergelder sind futsch und der
Schaden an der Natur nicht wieder gutzumachen...

Leilah Lilienruh


 


  

Denunziantentum und Lernfabriken

Von wegen, lockere, antiautoritäre Erziehungsmethoden in den 1970er Jahren...
Hab' vorhin in alten Grundschulheften geblättert und einen Vermerk meiner Lehrerin
wiederentdeckt, in dem sie mir per Einfügen einer "0" an entsprechender Stelle
Absolution erteilt hat. Soll heißen: Hatte mir in den vorangegangenen Wochen keinen
Verstoß gegen die Schulordnung - das Maß aller Dinge - zuschulden kommen lassen.
Puh, Schwein gehabt! Keine Strafarbeit, keine schlechte Note im Notizbuch, nicht mit
dem Gesicht zur Wand in der Ecke stehen, kein Anschiss von den
Erziehungsberechtigten... Woher sie so genau wusste, dass sie eine Null hinschreiben
musste? Sie konnte es an der Wand ablesen!

Rechts an der Wand im Klassenzimmer hing sie, war der Schrecken aller vergesslichen Schüler
und Lieblingsobjekt einer karriere-geilen Klassenlehrerin: die Denunzianten-Tafel! Nee, die hieß
natürlich nicht von Amts wegen so. Offiziell wurde das Teil als "Ordnungsplan" und große
Errungenschaft moderner Nachkriegspädagogik deklariert. Es war eine Denunzianten-Tafel,
fertig! Ich stand flennend davor und sollte die Namen anderer Kinder preisgeben, die "etwas
Verbotenes getan" hatten. Andere standen oft genug flennend davor und mussten meinen
Namen laut sagen. LAUT, das war ungeheuer wichtig, richtig laut, so dass die Schmach länger
nachhallte und als Schamesröte an den Wangen hängen blieb. Ich darf das Mistding also so
nennen und hassen und für ewig in Erinnerung behalten!

Genau genommen war es ein riesengroßer Papierplan, auf dem - streng nach alphabetischer
Ordnung versteht sich - sämtliche Schülernamen aufgelistet waren. Dahinter befanden sich
Spalten für verschiedene unter Strafe stehende 'schwere' Vergehen wie beispielsweise das
Vergessen von Hausaufgaben, Bleistiften, Radiergummis, Turnhemden etc. sowie das Sprechen
mit dem Nachbarn, das Abschauen bei Klassenarbeiten, das Bonbonlutschen während des
Unterrichts  oder auch Verstöße gegen die heilige Schulordnung, in der offenbar an erster
Stelle stand, dass es strengstens untersagt sei, während der Pausen die überdachte Fläche
vor dem Verwaltungstrakt zu betreten. Ja, wo wären wir denn da auch hingekommen, wenn
die Rotzlöffel bei strömendem Regen plötzlich unterm Dach hätten stehen wollen!?
Regenwasser hat schließlich noch keinem Kind geschadet. So wenig wie Eckestehen und
öffentlich als Taugenichts bezeichnet zu werden, der eines Tages in der Gosse landen wird.

Unsere Lehrer waren doch sooo fortschrittlich. Die hatten fast alle erst NACH dem Krieg
studiert und trugen quietschgrüne Mini-Kleider mit orangen Blümchen drauf, ockerfarbene
Kunstlederjacken, Schlaghosen, Bärte und Haare, die nicht über dem Kragen enden mussten.
Und die Schulen erst. Die waren so unglaublich modern: Betonklötze mit Platz für eintausend
Insassen und mehr, gern mit Mobiliar in den angesagten Farbtönen grün, orange und
quiekegelb ausgestattet. Also, im Prinzip so eine Art "grau mit anderen Mitteln". Schon
mit sieben Jahren ging mir durch den Kopf: "Wenn ich noch ein einziges Mal auf einem
orangenem Teppichboden stehen und Offenbach auf der gigantischen Deutschlandkarte
zeigen muss, kotze ich drauf!" Auf beide: den Boden und die Karte.

Unsere kindliche Renitenz schrie offenbar förmlich nach unkonventionellen Verhörpraktiken
und Sanktionen. Um noch eine kleine, feinsinnige Schikane einzubauen, verpasste die liebe
Lehrerin den Schülern nicht persönlich die ihrer Ansicht nach unvermeidlichen 'Ordnungs- und
Betragensstriche', sondern nötigte hierzu jeden Tag einen anderen kleinen, unfreiwilligen
Denunzianten. Dieser stand dann eingeschüchtert, mit hochroter Birne an der Tafel und
malte zitternd wacklige Striche in die betreffenden Felder, entweder weil ihm persönlich ein
'Verstoß' bekannt war oder weil solche von den übrigen Kameraden per Zuruf gemeldet
werden mussten. An der Anzahl der Striche orientierten sich in der Folge die Zeugnisnoten.
Ein ganz wunderbares Förderprogramm für jede Klassengemeinschaft, fürs Selbstwertgefühl
und für ein anständiges Schulsystem!

Ich denke, als Jahrzehnte später dieses Gedicht für mein Hörbuch "Gezeitenlos" entstand,
verharrte die kleine Leilah irgendwo in meinen Hirnwindungen immer noch heulend an der
Tafel und musste Kameraden denunzieren...


Hexenkinder

Wenn die Besten uns verlassen,

werden wir am Fenster stehen

und den Anblick nicht begreifen

und nicht fassen, dass sie gehen.
 

Aus den tristen Wohnkulissen

werden sie die Zukunft tragen,

Zorn und Hoffnung mit sich nehmen,

nicht mehr weinen, nichts mehr sagen.
 

Du und ich, wir werden schweigend

auf den Strom der Kinder schauen,

der davon fließt durch die Straßen,

weil sie uns nicht mehr vertrauen.
 

Hirn-ergraute Lehrer werden

Formeln in die Bänke ritzen.

Mütter werden Fotos küssen

und auf leeren Betten sitzen.
 

Arroganz hofft noch vergebens,

dass sie morgen wieder kehren.

Vorwärts, vorwärts drängt die Sehnsucht,

und sie werden sich nicht wehren.
 

Giftig dunkle Stadtfabriken

bleiben kalt als Mahnmal stehen,

und aus tausend toten Orten

wird man Kinder strömen sehen.
 

Blinde werden Lahme stützen,

große Starke tragen Kleine.

Schweigend zieht die Karawane,

lässt uns im Beton alleine.
 

Manchmal wird man aus der Ferne

sie vorüber wandern sehen,

doch kein Mensch wird je erfahren,

wohin Hexenkinder gehen.
 

Wenn die Bunten uns verlassen,

weil die Scheiterhaufen brennen,

werden wir an uns erfrieren

und die Welt nicht mehr erkennen.
 

Leilah Lilienruh

 


 




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